Tote für die Quote – RAFFZEIT beim Kirchentag 2005

Jun 1st, 2005 | By | Category: Allgemein

Über die Zukunft des Fernsehens haben sich schon viele Menschen Gedanken gemacht, aber auf die wohl überzeugendste Weise hat sich die Gesamtschule Harburg in ihrem Musical „RAFFZEIT“ mit dem Thema beschäftigt.

Was passiert, wenn vier Kindergartenfreunde, die sich zu kennen glauben, gemeinsam – und gegeneinander – in einer Fernsehshow um 1 Millionen Euro kämpfen?Wir befinden uns im Fernsehstudio von LifeTV. Vor uns zwei Animateure. Ricci und Angie erklären uns schnell, worum es geht: Harry. Harry Gehrmann ist der Held der Show – und auch der Moderator. Wenn er kommt, sollen wir jolen. Damit wir das nicht vergessen gibt es eine einfache Ampel und dazu eine einfache Regel: Ampel grün = Applaus, lauter, mehr, ein paar Bravo-Rufe wären auch nicht schlecht. Ampel rot: Stopp!

Und schon geht´s los. Geleckt und mit schleimtriefenden Lächeln eilt Harry auf die Bühne. Ampel grün und schon geht das Gejole los. Schnell lernen wir auch die Kandidaten kennen – sie stellen sich gegenseitig vor. Ronja: verträumt und aus reichem Haus; Kati: präsentiert sich gerne und ist Ossi – eine Info für die sie Sascha am liebsten schlagen würde; Danny: Schönling und Sascha: reich.

Die Regeln sind unglaulich einfach: Es geht um eine Millionen Euro. Dazu gehen die Kandidaten in vier Runden in den Biohilator, er versetzt sie in ihre Rolle und in die entsprechende Zeit. Wer seine Rolle am Überzeugsten spielt, wird von der Sponsorenjury und via TED gewählt.

Die vier Freunde sind sich einig: Wer auch gewinnt, das Geld wird geteilt.

Und schon befinden wir uns in der Wüste des vorderen Orients. Ronja ist Tochter eines Händlers und soll verkauft werden. Ein Kamel sollte dafür schon rüber kommen. Die strenge Mutter Kati findet die Entscheidung des Händlers Dany gut und schon stehen sie gegen Ronja und ihre heimliche Liebe – den Sklaven Sascha. Mit einer List können die Verliebten entkommen und schon ist die erste Runde gewonnen. Erstaunlich einfach, so schwer kann´s also nicht werden.

Für die nächste Runde geht es ins Mittelalter. Die Gräfin Ronja liebt Ritter Sascha, ist aber mit Graf Dany verheiratet, den die Comtesse Kati begehrt. Diesmal darf auch ein Saalkandidat mitspielen. Ihm winken 500.000 Euro und schon steht Nico auf der Bühne. Seine hochschwangere Freundin Natascha fiebert mit ihm. Der Traum vom eigenen kleinen Haus rückt in greifbare Nähe, da scheint die Unterschrift auf die Schadensersatz-Unterlassungs-Erklärung nur nebensächlich, es wird ja schließlich nichts passieren. 5 Minuten später hat Nico Danys Dolch in der Brust. Natascha schreit auf. Das Lächeln auf unseren Gesichtern schwindet, während Gehrmann Natascha zurück schiebt und Nicos Leiche von der Bühne ziehen lässt.

Das Blatt hat sich gewandelt, aus der Gameshow wird vor unseren Augen ein brutaler Albtraum. Ronja bricht zusammen. Dany steht zu seiner Tat. Schließlich war es seine Rolle – und die hat er überzeugend gespielt. Ich muss schlucken.

Runde drei: Paris, die aufkeimende französische Revolution verläuft erstaunlich ruhig und gibt Chance zum Verschnaufen.

Und schon sind wir im Dschungel der Runde vier. Es gilt: Indianer gegen Besatzer. Der Frieden scheint perfekt. Ein Versöhungsgeschenk von Besatzer Dany und Häuptling Sascha nimmt an. 1 Minute später. Dany zündet die Bombe. Alle sind tot.

Nur die vier Freunde haben das Massaker überlebt. Dany will gewinnen. Häuptling Sascha soll für den Sieg sterben. Gehrmann ist zufrieden. Sascha hat Danys Klinge am Hals. Was ist das? Computerabsturz. Gehrmann flucht.

Der Sieger… Gehrmann beschließt eine fünfte Runde. Drei Freunde bei den Nordern. Dazu der Gewaltverebrecher Broder samt Pistole. Norder: Gefühlskalt. Der Obernorder: Dany. Seine Mission: „Lebendig sizieren“. Siziertisch, die weißen Gestalten schnallen Sascha fest. Gehrmann jubelt. Die Quote dankt. Lebendig sizieren…

Auf erschreckende und eindrucksvolle Weise präsentiert das Ensemble des „Netzwerk Junges Musiktheater“ ihre Version zu einer kommerzialisierten Fernsehwelt in der ein Leben weniger zählt als der Händedruck des Sponsors. In der ein Harry Gehrmann gefeierter Medienstar ist und „jeder Tote bringt Quote“ das Motto ist.

Die jungen Schauspieler und Sänger der Gesamtschule Harburg überzeugen dabei mit beeindruckenden Stimmen in ihrer Neuauflage der Eigenproduktion „RAFFZEIT“, die nach 10 Jahren zum zweiten Mal auf dem Kirchentag zu sehen ist und dabei (leider) nichts an Aktualität verloren hat.

Ronja alias Johanna Bularzcyk scheint mit ihrer Stimme nichts unmöglich zu sein und Kersten Augustion als Dany, der binnen weniger Minuten erstaunliche Abgründe seiner Psyche offenlegt sind dabei nur einige Highlights der vielversprechenden jungen Talente der „Pilotschule Kultur“ in Hamburg.

Ich denke, wir sprechen im Namen aller Zuschauer, wenn wir an dieser Stelle noch einmal DANKE für eine unglaubliche, tiefgründige und mitreißende Produktion auf dem Kirchentag sagen. Wir freuen uns auf Euch in Köln 2007.

[Text: ballrock2 | Fotos: juggler]

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